Freitag, 9. Mai 2014

Patrouille des Glaciers 2014


53 KILOMETER UND 4000 HÖHENMETER Fröstelnd in der Primaloftjacke stehe ich am Bahnhof Martigny. Bei mir etliches an Gepäck, darunter die ziemlich genau 10 Kilogramm an Ausrüstung (von der Unterwäsche bis zu den Powergels...), welche ich heute Nacht über die 53 Kilometer und 4000 Höhenmeter der Patrouille des Glaciers tragen werde.
Um 23:15 Uhr wird auf dem Zematter Bahnhofsplatz ein Startknall in die dunkle Bergwelt hallen, mit rund 80 anderen Dreierpatrouillen werden wir lossprinten. In Turnschuhen - die Ski und Skischuhe auf den Rucksack geschnallt für die ersten rund 500 Höhenmeter bis zur Waldgrenze.


ADRENALIN MOBILISIERT RESERVEN Am Start eingereiht in die Läufermasse dröhnt Musik aus den Lautsprechern, es schaudert mich, treibt mir das Adrenalin in den Kreislauf, bringt Anspannung und Motivation aufs Maximum. Der Speaker berichtet, über die Strecke benötige ein Läufer rund 8000-10'000 Kcal, das entspreche ca 20 grossen Steaks. Diese Durchsage versetzt meiner Motivation kurz einen brutalen Rückschlag - ich erinnere mich, dass mein Magen heute einzig drei Brotscheiben, ein kleines Pizzabrötchen und ein Tasse Schokoladencreme zu sehen bekam. Den ganzen Tag schon fühlte ich mich, als würde mir die Patrouille bereits in den Knochen stecken. Beim Briefing in der grossen Zermatter Kirche wurde mir Sturm, beim Anblick von Essen übel. Ich sehnte mich eher nach Dösen unter einer warmen Decke als danach, die Tete Blanche mitten in der Nacht zu überqueren. Doch, dass ich vom Start bis mindestens bis zum ersten Kontrollposten mitlaufe, steht ausser jeglicher Diskussion, denn ab dort darf mein Team das Rennen auch zu zweit fortsetzen.
Startknall...Wir passierten Stafel, wir passierten Schönbühl und ich fühlte mich plötzlich gar nicht mehr so grottenschlecht sondern voll ins Rennfieber versetzt...  Erstaunlicherweise konnte sich mein Körper zusammenreissen und seine ganze Kraft auf das Rennen fokussieren!
Startknall, und los rennt die Läufermasse auf dem Zermatter Bahnhofsplatz. Auf der ganzen Strecke durchs Dorf feuern unzählige Zuschauer schreiend und in die Hände katschend an - ein wahres Volksfest im Dorf auf 1660müM!

Selbst wenn man sich Zuhause schwört, beim Startknall gemächlich zu Gehen anstatt wie vom Insekt gestochen loszurennen(es wird eine lange Nacht!)...von den Startemotionen erfasst ist ein Startsprint kaum zu unterdrücken! Bei vielen Läufern Rennen die Beine sozusagen abgekoppelt von der Vernunft ;-), was einige später bös büssen werden!
 
In Stafel angekommen, steht der Wechsel von Turnschuhen auf die Ski an.
 
Ab Schönbiel führt die Strecke durch vergletschertes Gebiet, es muss angeseilt weitergefellt werden! Die meisten haben ihr Seil mit einem Elastik speziell präpariert, damit es einem - ganz besonders während der Abfahrt - nicht andauernd unter die Ski gerät!
In Stafel von den Turnschuhen auf die Ski gewechselt und in Schönbiel angeseilt, fellten wir mitten in der dunklen Nacht über vergletschertes Gebiet der Tete Blanche entgegen. Es schneite leicht aber war lange Zeit fast windstill. Die umgebenden Bergriesen, ua auf linker Seite das Matterhorn, waren nur zu erahnen, zu schlecht war die Sicht zu Beginn des Rennens noch, um die Kolosse zu sehen.

GEFÄHRLICH KLEINE RUCKSÄCKE? Die Patrouille ist ein Teamwettkampf, das trägt zur Sicherheit des Einzelnen während der Traverse durch die raue Bergwelt bei. Die erste grössere Hürde auf der Strecke stellten die Minustemperaturen, mit Windchill rund -20°C, auf der Tete Blanche dar. Dort, auf 3650müM war ich superglücklich über meine Primalofthandschuhe - auch wenn diese ein paar Zusatzgramm zu Schleppen darstellen. Um die Felle zu versorgen, zog ich sie ganz kurz ab, fünf Sekunden reichten und meine Finger waren wie gefroren. Beim Betrachten der Rucksäcke einiger Spitzenläufer konnte ich mir partout nicht vorstellen, wo da eine wärmende Jacke oder dickere Handchuhe drin liegen sollten - zu klein und zu zusammengefallen schauten deren Rucksäcke aus. Das erklärt, warum auch dieses Jahr mehrere Läufer wegen Unterkühlung von den Sanitätern hier aus dem Rennen genommen wurden. Wir, bei denen es weder um Rang, Ehre noch Geld geht, können die Spitzenläufer deswegen schon an den Pranger hängen - stattdessen hege ich aber zumindest ansatzweise Verständnis für deren Entscheidung nach dem Alles-oder-Nichts Prinzip.

AM SELBEN STRICK Der Abschnitt von Schöbiel über die Tete Blanche bis zum Col de Bertol ist vergletschert und muss daher am Seil zurückgelegt werden. Barbara, Arnfinn und ich haben uns vor der PDG nicht wirklich gekannt, geschweige haben wir die Abfahrt zu Dritt am gleichen Strick zusammen geübt. Seilabfahrten in Rennen, sprich im vollen Gehetz und Gejufel, stellen immer ein ziemliches Spektakel dar: die Läufer fahren übers Seil und verheddern sich so in vollem Abfahrtstempo darin, der hinterste am Seil stürzt und wird mitgerissen bis seine Teamkollegen bremsen können, oder jemand fährt einem anderen Team ungewollt in der Dunkelheit übers Seil womit man plötzlich zu sechst am selben Strick "angekettet" durch die Gegend rast...
Ganz bös hat es einen fremden Läufer getroffen, der seinen Blick zu fest aufs Seil vor seinen Füssen fokussiert hat. Er fuhr, als Seilhinterster, im Stockdunkel in einen Markierungspfosten - ein Bein links, das andere rechts! Bei uns verlief die Abfahrt am Seil überraschenderweise tiptop und ohne Zwischenfälle.
Dafür erwartete uns ein Zwischenfall wenige Meter unter dem Col de Bertol: meine einte Bindungshinterbacke hatte wohl bereits vor Streckenhälfte genug vom Rennen, vedrehte ihren Kopf trotzig nach rechts und gab meinen Skischuh immer mal wieder mitten in der Kurve frei - gäbig!

TAGESANBRUCH BEI STRECKENHÄLFTE In Arolla warteten ganze "Verpflegungssippen" mit grossen Taschen auf etliche Teams - die Läufer wurden von ihren Bekannten und Angehörigen gefüttert, liessen sich die Wasserflache auffüllen und Motivation für die zweite Streckenhälfte zureden. Leider hatte niemand einen Torx-Schraubezieher für meine Bindung dabei. Nach überlebter Streckenhälfte und antartktischen Temperaturen auf der Tete Blanche einfach zu kapitulieren und mich hier in Arolla vom Team zurückzulassen, fand ich grad gar nicht ansprechend! So machten wir uns trotz Bindungsproblem als komplettes Team auf den Weiterweg nach Verbier, mit der Hoffnung, dass sich meine Hinterbacke nicht noch schlimmer löst.
Arolla, Streckenhälfte und erster offizieller Verpflegungsposten...man sollte also genug Verpflegung selber mittragen! In Kürze wird der Tag anbrechen, erste Bergsilhouetten werden sichtbar.

NADELÖHR "PORTAGE" Vor der Portage auf den Col de Riedmatten angekommen, sahen wir erstmals nicht viel ausser einige Hundert aufgebundene Skispitzen vor uns, ein Grossteil davon Teams der kleinen Patrouille mit Start in Arolla. Die Kombination unseres Starblockes mit unserer Laufzeit hatte also zur Folge, dass wir genau vor dem Nadelöhr der Patrouille-Strecke auf die grosse Läufermasse der kleinen Patrouille stiessen. Die 45 Minuten Wartezeit an Ort verbrachten wir mit Fingeraufwärmen und Bestaunen des Tagesanbruches in der Bergwelt rund um uns. In der Portage drin stockte es massiv, immer wieder mussten wir minutenlang an Ort stehenbleiben. Der Abstieg vom Col de Riedmatten in Richtung Lac de Dix brauchte nochmals bisschen Nerven, wurde dort doch eine Helirettung mit Longline durchgeführt - wobei so lang war diese Line eben nicht, so dass wir uns durch den Rotor in einen Hurrican versetzt fühlten, blockiert waren und uns die nassen Handschuhe innert Sekunden einfroren.
Vor der Portage auf den Col de Riedmatten: 3/4-stündige Zwangspause inmitten aufgebundener Ski

Col de Riedmatten: links der Aufstieg, rechts der Abstieg an Fixseilen in Richtung Lac de Dix

DAS LEIDEN BEGINNT Bei Top Schneeverhältnissen (noch keine Spur von aufgeweicht) fellten wir die flache Traverse entlang des Lac des Dix im Tal nach vorne bis zur Abzweigung auf die Rosablanche hinauf. Bis hier lief es mir wie am Schnürchen, nach Plan habe ich stündlich eine Geltube gefüttert -  doch im Aufstieg zur Rosablanche, in mittlerweile drückender Hitze, begann mein grosses Leiden. Es fehlten wohl einfach die Steaks Nr 3-20 in meinem Magen...
Aufstieg auf die Rosablanche, spätestens hier beginnt bei zahlreichen Läufern das Leiden ;-)!


 
Belohnung auf der Rosablanche: die Zurufe und das Anfeuern unzähliger Zuschauer, die frühmorgens ihre "Anreise hierhin per Tourenski" auf sich nahmen!
Zwischendurch zur Rast in den Schnee sinkend, schwörte ich mir, nieeeemehr so etwas anstrengendes wie die Patrouille zu laufen! Mein Herz schlug nicht schneller als 140x pro Minute, mein Atmung war nicht wirklich an Anschlag - doch die Muskel wollten einfach nicht mehr! Barbara zog mich bisschen mit dem Elastikschnürchen und trug mir die Ski den letzten Gegenanstieg rauf. Eine Zuschauerin auf Tourenski verspürte Mitleid und verfütterte mir ihr feinstes Tourenpicnic!
Ganze Schlange bestehend aus Skitüreler, welche bei Tagesanbruch in Richtung Col de la Chaux aufsteigen,um dort Läufer anzufeuern!

EINZIG WETTKAMPF GEGEN DIE ZEIT? Nach fast 15 Stunden erreichten wir das Ziel in Verbier - überglücklich, hier trotz diversen Zwischenfällen zu dritt als Team anzukommen!
Ursprünglich war "mein" Team ein reines Frauenteam, und wir peilten eine bestimmte Zeit, um einiges schneller als unsere fast 15h, an. Doch rund 3 Wochen vor dem Startschuss zog sich die eine Kollegin eine Sprunggelenksverletzung und die zweite eine Schwangerschaft ;-D zu, so blieb schlussendlich einzig ich übrig vom ursprünglichen Frauenteam. Mit Barbara und Arnfinn fand ich zwei sehr aufgestellte spontane Ersatzläufer, die den PDG zu viel mehr als nur einen Wettkampf gegen die Zeit machten. Die 53 Kilometer und 4000 Höhenmeter wurden zum grossartigen Spektakel, zu einem unvergesslichen Teamerlebnis.
Die Patrouille ist mit keinem anderen Rennen zu vergleichen, welches ich bisher gelaufen bin. Sie ist anders, eindrucksvoller, mystisch, abenteuerlicher, anstrengender! Irgendwie wurde die Zeit so völlig zur Nebensache. Mit dem Überqueren der Ziellinie in Verbier geht nun (leider!) meine diesjährige viel zu kurze Skisaison zu Ende. Denn nun ist vollständiges Auskurieren einer Malleolar Bursitis (Schleimbeutelentzündung Innenknöchel), welche mir den ganzen Monat April einzig zwei Skitouren zugelassen hat, angesagt.

ES LEBE DAS RENNABENTEUER Bei brütender Hitze in der Portage auf die Rosablanche habe ich mir geschworen "nie mehr Patrouille" - doch jetzt, 2 Tage später keimt bereits Lust auf die nächste Teilnahme im 2016 auf!
Ganz grossen Dank an die vielen Soldaten und auch zivilen Helfern, welche geplant, die Strecke präpariert und uns am Kontrollposten auf der Tete Blanche bei minus 20°C ihren Thermoskannentee geopfert haben - ihr habt uns dieses unvergessliche Erlebnis ermöglicht!
Und zuletzt möchte ich noch Herrn Ueli Maurer ganz herzlich danken, dass er sich umstimmt und meine Steuern weiterhin in das Volkserlebnis "Patrouille des Glaciers" fliessen möchte, anstatt damit den Gripen in die Lüfte zu heben...
Es lebe die Patrouille, es lebe das Rennabenteuer!

PS bei der Durchführung der Patrouille Anno 1945 noch keine Spur von Lycra-Rendresschen und die Teams mussten per Dülfersitz abseilen: https://www.youtube.com/watch?v=-QRawEJ3jSw

Impressionen von der Patrouille 2014, festgehalten von Pascal Bourquin: https://www.youtube.com/watch?v=z4RsTjgTbAs&feature=youtu.be


Deklaration Bildmaterial: Einige Bilder stammen von meiner Teamkollegin, die restlichen von der offiziellen PdG-Website oder von Dynafit. Den Fehler, meinen Fotoapparat zu Hause zu lassen, werde ich 2016 nicht wieder begehen!